Als ich Mitte April nach knapp sechs Wochen und 4.000 km in Iringa ankam, hatte ich ein sehr ungenaues Bild von Tansania. In Sambia hatte mich einerseits die Schönheit der Natur begeistert, andererseits empfand ich das Fehlen von Vielem, was man in Deutschland für selbstverständlich hält – Ruhe, Platz, ein wasserdichtes Sicherheitsgefühl, Straßenbeleuchtung und Leberwurst – ehrlicherweise als entnervend. Wie positiv überraschte mich Tansania danach, wo sich die Uhren noch langsamer zu drehen scheinen als bei uns. Auf Swahili, der traditionellen Landessprache, wird die Uhrzeit um sechs Stunden versetzt angegeben, sodass der Tag mit dem Sonnenaufgang beginnt und man im Rhythmus der Natur lebt. Stämme spielen nach wie vor eine große Rolle für die Kleidung, die Sprache, die Umgangsformen, die Identität; einige Stämme wie die Maasai pflegen nach wie vor ihre Jahrhunderte alte, traditionelle Lebensweise der Viehzüchter und Bauern und leben häufig noch auf dem Land in Hütten aus Holz und Lehm. Allgemein nehme ich die Menschen als sehr herzlich und offen wahr; die Hilfsbereitschaft untereinander scheint groß, und viele nennen Gleichaltrige Kaka oder Dada (Bruder oder Schwester) und Ältere Mama oder Baba (Mama oder Papa).

Das alltägliche Leben scheint langsamer und stressfreier als in Deutschland, aber auch weniger bequem. Supermärkte gib es hier nicht; Viele bauen ihren eigenen Mais an oder halten Hühner, Lebensmittel werden auf dem Markt gekauft. Da die meisten weder Computer, noch Smartphone haben, werden Informationen fast ausschließlich von Mund zu Mund weitergegeben; wer was wissen will, fragt seinen Nachbarn. Der Verkehr scheint chaotisch, hat aber seine innere Logik von Rücksicht nehmen und Rücksicht einfordern; ohne Ampeln oder Schilder verständigen sich die Fahrer untereinander, und am Stadtrand oder auf dem Land wartet man so manches Mal, weil eine Kuh- oder Ziegenherde die Straße kreuzt.

Iringa selbst ist auf knapp 1.500 m im Hochland gelegen; bei meiner Anreise läuten heftige Gewitter das Ende der Regenzeit ein, die im Mai allmählich der zunächst heißen, später kühlen Trockenzeit weicht. Die Stadt ist um eine Hauptstraße angeordnet, die wiederum von unzähligen kleinen Läden und Ständen gesäumt ist, und innerhalb weniger Fahrminuten ist man auf dem Land, wo sich Hügelketten majestätisch in die Ferne ziehen, wunderschöne Sonnenuntergänge die Felder in Farbe tauchen und klare Sternenhimmel einen staunend innehalten lassen. In dieser Stadt habe ich dreieinhalb Monate gelebt und gearbeitet, und ich hatte das große Glück, neben meinem Arbeitskollegen Edgar drei weitere spannende Menschen von hier kennenlernen zu dürfen, deren Geschichte ich gerne erzählen möchte.

Mein erster Freund in der Stadt ist Jackson, 23, aus Mafinga, ungefähr 80 km westlich von hier. Jackson ist von Beruf Tuk-Tuk-Fahrer, hat immer gute Laune, ist zuverlässig und hilfsbereit, aufgeweckt, interessiert. Schnell kommen wir vom Small Talk zum Erzählen von Geschichten; wo wir herkommen, was uns geprägt hat, wovon wir träumen. Wir verbringen Abende mit seinen Freunden vor seinem kleinen Haus am Stadtrand, wo wir ums Feuer sitzen, Musik hören und reden. Er erzählt mir vom Verlust seiner Mutter, die in seiner Kindheit starb, und dass sein Vater ihn schon vor Jahren alleine gelassen hat. Ohne Eltern und ohne Geld konnte sich Jackson die weiterführende Schule nicht mehr leisten und war gezwungen, die Schule abzubrechen, aber konnte einen Ausbildungsplatz als Mechaniker ergattern. Als Mechaniker verdient man in Tansania aber schlechter als als Tuk-Tuk-Fahrer, sodass er den Beruf wechselte. Er lernt gerne neue Leute kennen, und er kennt jeden Winkel der Stadt wie seine Westentasche, aber ein schöner Beruf ist das für ihn nicht. Er arbeitet sieben Tage die Woche von 7 bis 21 Uhr; an guten Tagen nimmt er 50.000 Schilling ein, von denen er 20.000 seinem Chef abgeben muss – diese Summe ist unabhängig von seinem Tagesverdienst – und 10.000 für Sprit ausgibt. Diese guten Tage bescheren ihm also umgerechnet 8,51 Euro. Natürlich haben diese 8,51 Euro hier eine völlig andere Kaufkraft als in Deutschland, aber weite Sprünge machen kann man damit nicht – und seit dem Ausbleiben der Touristen aufgrund von Covid-19 kommen diese guten Tage ohnehin kaum noch vor. Und trotzdem hat er eine ansteckende Lebensfreude und sieht das Schöne in vielen kleinen Dingen, wofür ich ihn sehr bewundere. Sein Traum ist es, einmal eine Hühnerfarm aufzubauen. Er hat mal für einen Zahnarzt gearbeitet, der nebenbei Hühner züchtete, und kennt Hühner und den Umgang mit ihnen in- und auswendig. Aber dafür braucht man einen Raum, Zeit, Nahrung, Impfungen, Wärme, und vor allem Hühner. Das Geld dafür hat er nicht, keine Bank würde ihm einen Kredit geben, und seine Freunde haben auch nicht genug Geld, um ihm so viel zu leihen. Und trotzdem: er sagt, wenn ich in zwei Jahren wiederkomme, lädt er mich auf seine Farm ein.

Mein zweiter Kontakt in der Stadt ist Pepoli, der Handyman des Grundstücks, auf dem ich ein kleines Haus mit Blechdach bewohne. Er ist halb Italiener, halb Tansaner, 31, und kreativ-erfinderisch. Als MacGyver des kleinen Mannes kann er mit einem Draht einen Durchlauferhitzer reparieren, und es gibt fast nichts, was er nicht wieder ans Laufen kriegt. Als er den Stromanschluss in meinem Haus reparierte, lud ich ihn auf ein Bier ein, und nach einigen gemeinsamen Ausflügen, Abendessen und ehrlicherweise auch halb durchgemachten Nächten erzählte er mir seine Geschichte. Der Vater hat die Familie früh verlassen, und seine Mutter, zu den Tutsi gehörend, ging mit den Kindern nach Ruanda, wo 1994 der Völkermord der Hutu ausbrach. Pepoli, seine Mutter und seine Schwester flüchteten zu Fuß, und was er dabei gesehen hat, will oder kann er nicht erzählen. In Tansania war die Familie sicher, und Pepoli konnte zur staatlichen Primary School gehen. Auf meine Nachfrage, wie seine Schulzeit gewesen sei, schüttelt er den Kopf und erzählt, dass heftige Stockschläge auf Hände oder den nackten Hintern ein wirklich alltägliches und völlig legitimes Mittel der Erziehung gewesen seien. Er wäre gerne an eine private Schule gegangen oder hätte studiert, aber dafür hat das Geld der Familie nicht gereicht. Sein Traum ist eine eigene Farm, wo er Mais anbauen und Kühe halten kann. Ein Stück Land außerhalb der Stadt hat er schon gekauft, aber für die Kultivierung fehlen ihm Geld, Zeit und als Autodidakt vielleicht auch ein Stück Fachwissen. Deswegen bestreitet er seinen Alltag als „Jack of all trades“, in der Hoffnung darauf, irgendwann genug Geld beisammen zu haben, um seine Farm endlich in Betrieb zu nehmen. 

Die dritte Person, die ich in Iringa besser kennenlerne, ist Beatrice, meine Swahili-Lehrerin. Sie ist 36, hat zwei Kinder und lebt in einem kleinen Haus am Stadtrand, wo sie Hühner hält und in Subsistenzwirtschaft Mais anbaut, um die Familie zu ernähren. Wir verstehen uns gut, und viele Unterrichtsstunden reden wir eher über Gott und die Welt, als die siebte Nomenklasse zu erlernen. Ihr Englisch ist hervorragend, sie ist eine tolle Lehrerin, und später stößt sie zu den Abenden vor Jacksons Haus dazu, sodass alle drei – Jackson, Pepoli und sie – sich kennenlernen. Beatrice hat als kleines Kind ihren Vater und ihre Mutter verloren und ist als Vollwaisin bei einer Tante aufgewachsen. Danach lernte sie Ihren zukünftigen Ehemann kennen, für den sie ihr Studium abbrach, um ihn, damals arbeitslos, finanziell unterstützen zu können. Nach der Geburt des zweiten Kindes fand er einen Job, verließ sie, brach jeglichen Kontakt sowie die Unterstützung ab und zog weg. Das Geld ist seitdem mehr als knapp, und wie sie das Schulgeld für ihre Kinder zusammenkriegen soll, weiß sie noch nicht. Aber auch sie ist weit davon entfernt, sich zu beklagen oder aufzugeben. Sie zieht sehr viel Kraft aus ihrem Glauben an Gott, wirkt ungeheuer resolut und glaubt fest daran, dass sie es schaffen wird, was mich, ebenso wie bei Jackson und Pepoli, tief beeindruckt.

Warum erzähle ich die Geschichten dieser drei Menschen? Während mich ihr Werdegang auch ohne meinen Schulbank-Hintergrund berührt hätte, ist er mir mit diesem Hintergrund echt nahegegangen, und zwar aus einem einfachen Grund: das Leben dieser drei Menschen, die ich hier völlig zufällig kennengelernt habe, hätte mit Schulbank wesentlich besser sein und vielleicht sogar grundlegend anders verlaufen können. Vielleicht hätte Jackson die Sekundarschule abschließen können und hätte jetzt seine Hühnerfarm, anstatt in einer 98-Stunden-Woche keine 60 Euro zu verdienen. Vielleicht wäre Pepoli nach den fürchterlichen Erlebnissen seiner Kindheit in einer prägenden Phase des Lebens wenigstens die körperliche Gewalt an der Grundschule erspart geblieben; vielleicht hätte er Landwirtschaft studieren können und seine Farm würde langsam die ersten Erträge abwerfen. Und vielleicht hätte Beatrice zu Ende studieren und sich mit einer Sprachschule selbstständig machen können, und ihre Sorgen um das Schulgeld ihrer Kinder wären kleiner. 

Der Nutzen von Schulbank und die potenzielle Auswirkung eines solchen Stipendiums waren mir auf dem Papier schon vor meiner Abreise klar. Es war wirklich schön, die Stipendiaten kennenzulernen, die im Büro vorbeikamen und stolz waren, die letzten Prüfungen des Schuljahres hinter sich gebracht zu haben und sich auf die Ferien freuten. Aber der wahre Nutzen ist mir entgegen meiner Erwartung gerade nicht durch diejenigen klargeworden, die von Schulbank profitieren, sondern durch diejenigen, die von Schulbank hätten profitieren können. Mit Jackson, Pepoli und Beatrice habe ich hier drei Menschen kennengelernt, die ein solches Stipendium auch verdient hätten, und deren Leben vielleicht genau das fehlt, was ein solches Stipendium bieten kann: eine sichere Perspektive.